Jahresendresumée und Reisezwischenresumée

Ich bin eigentlich nicht der Typ Jahresresumée. Und schon gar nicht der Typ Vorsätze. Meist verliere ich zwischen den vielen End- und Anfangsbetrachtungen den universalen Überblick und persönlichen Faden, schaffe nie einen Jahresrückblick im Fernsehen anzusehen und schlittere dann frohgemut, aber ohne besonderes Konzept ins neue Jahr.

Aber diesmal gibt es das Bedürfnis nach Resumée. Obwohl 2016 medial bereits hinlänglich beschrieben ist, lautstark zum grausigsten Jahr gestempelt wird. Die Popkultur ist tot, die Politik steuert in den Wahnsinn und global versagt die Menschheit immer noch am humanen Miteinander. Oder ist das alles nur so schlimm, weil wir es jeden Tag noch ausgiebiger und noch präziser in Bild und Wort voneinander erfahren? Und da trag ich jetzt also auch noch mit dazu bei? Na immerhin werde ich kein negatives Resumée ziehen.

Ich hab vergangene Woche einen Artikel zur unerträglichen Gleichzeitigkeit des Seins* gelesen, das hat ganz gut beschrieben, wie es mir, wie es uns vergangenes Jahr ging. In der Welt passiert das Grauen, doch wir haben es nett und bequem. Der Artikel hat Pathos, aber es geht darin um genau dieses moralische Dilemma, dass wir ein friedliches Leben führen, während anderorten alles auseinander fliegt. "Der Schock der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren", wie Walter Kempowski das nannte: "Er saß 1948 hungrig und beschmutzt in einem Güterwaggon, der ihn, von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, nach Bautzen bringen sollte. Bei einem Halt beobachtet er durch eine Ritze im Bretterverschlag ein spazierendes Ehepaar, sie im Blümchenkleid, er in Knickerbockern, sorglos im Sonnenschein. Das hat ihm den Schock von der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren versetzt. Wie viel Glück und Unglück, Harmloses und Tragisches, Lebensbedrohendes und Idyllisches stapeln sich in jeder Weltsekunde aufeinander! Das ist so unendlich, so unfassbar wie die Zahlen, die zwischen eins und zwei liegen."

Lieber wäre mir, alle würden wie wir im Luxus von Frieden und Wohlstand leben. Alle könnten wie wir Zeit haben, sich den Dingen zu widmen, die ihnen wirklich wichtig sind, die uns nicht nur beschäftigen zum Geldverdienen oder Sicherheit-haben, sondern uns erfüllen und nicht just davon ablenken, was uns erfüllt und wichtig ist.

Aber den Weltfrieden gepaart mit dem bedingungslosen Grundeinkommen werden wir wohl nicht hinkriegen bis wir wieder losfahren. Und bei allem moralischen Dilemma hilft es halt auch niemandem, wenn wir mit schlechtem Gewissen unserer priviligierten Situation wegen daheim blieben. Im Gegenteil, wir wollen wieder raus, das Privileg nutzen.

Denn wie auch hinlänglich bekannt, Reisen prägt, bildet, bereichert – und fordert immer wieder Demut. Was gut tut. Wir haben so viele unterschiedliche Reiseerfahrungen gemacht – bei jedem Mal Wiederlosfahren. Haben erlebt, dass jedes Land ein eigenes Reiseverhalten bei uns hervorruft, uns neu und anders hinterfragt, andere Bedürfnisse und Ideen gebiert, jede Etappe ihr eigenes Regelwerk, ihre spezielle Atmosphäre hatte, wie sich Ziele veränderten, Wege uns führten und Zufälle uns dirigierten. So viele Orte, so viele Erlebnisse, so viel Unsicherheit – aber auch so viel Vertrauen und Zuversicht.

Dass dabei durchgehend der Blick aufs Wesentliche geschärft wird, muss ich nicht extra erwähnen. Das erlebt jeder, der sich abseits vom Mainstreamtourismus und Luxushotel auf Reisen begibt.

Aber allerhauptsächlich wollen wir zum Jahresende (bzw. mittlerweile Jahresanfang) nochmal schreiben, weil wir euch unbedingt versichern müssen, wieviel Laune uns das alles macht. Mit allen Umständen und Widrigkeiten von Klo bis Wetter. Denn in vielen Gesprächen zwischen den Reisen haben wir erschrocken gehört, wie (anders als gedacht) unsere Berichte im Blog zum Teil wahrgenommen werden. Wie sich manche Sorgen gemacht haben, ob es uns gut geht, wir wirklich Spaß haben beim Unterwegssein, wieso wir nicht heimfahren, wenn es doch so doof oder mühsam ist. Irritiert mussten wir feststellen, dass sich unser Tagebuch wohl – da ehrlich, spontan, ungefiltert und ohne Wirkungsabsicht verfasst – hie und da eher nicht danach anhört, wie wenn wir das freiwillig und bester Dinge tun.

Das werden wir im kommenden Jahr versuchen, anders zu machen. Also nicht das Reisen an sich, und wir werden auch nicht das Mühsame oder Unbequeme aussparen, das wäre ja unehrlich (und zudem langweilig, immer nur die fantastischen Plätze und Erlebnisse zu feiern), aber wir werden mehr darauf achten, unsere Begeisterung ausreichend mitzuteilen, damit ihr euch nicht sorgen müsst.

Huch, doch ein Vorsatz.

Und während also Kultur und Abendland untergehen, gondeln wir weiterhin optimistisch durch die Welt. So schaut's aus. Mit diesem gleichzeitsgeschwängerten pathetischen Beitrag wünschen wir euch allen ein friedliches erfülltes 2017, im Wissen, dass sich auch in Zukunft alles ändert und es haupstächlich darum geht: WEITERLIEBEN & LOCKER BLEIBEN. In diesem Sinne, Kopf hoch und Küsschen.

*Wir haben im Oktober 2023 nach dem Überfall der Hamas auf Israel und den Gazastreifen wieder über diese Gleichzeitigkeit des Seins gesprochen und diesen Artikel hier im Blog gesucht und uns gewundert, dass es 2016 war und was da eigentlich so Schlimmes passiert war. Es fiel uns nicht mehr ein, so viel weiteres Grauenhaftes ist seitdem auf der Welt geschehen, hat das längst überlagert und wird es weiter tun.

Wenn man nach "unerträgliche Gleichzeitigkeit des Seins" im Internet sucht, wird dieser Artikel angezeigt, ich dachte erst, ah, der Ukraine-Krieg, aber nein, er ist von 2020.

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