Weißes Rauschen unterm Kirschbaum und ein Kloster

Weißes Rauschen klingt in etwa wie ein Fernseher nach Sendeschluss (gibt’s den noch?) oder entferntes Meeresrauschen. Es gibt das Rauschen als Soundfiles zum Anhören, sie sollen das Gehirn beruhigen und Umgebungsgeräusche überdecken, selbst aber nach einiger Zeit nicht mehr wahrgenommen werden. Ich habe in letzter Zeit damit experimentiert, warum, lest ihr weiter unten beim Sternchen*

Aber erstmal geht es weiter durch's Land, mit saftigen Wiesen, gemütlichen Dörfern, einem Himmel mit gemalten Wolken, kitschigen Seen, dichten dunkelgrünen Alleen, Hügeln, Wäldern, Störchen – und erstaunlichen Häusern.

Agroturystyka U Haliny
Wigry 12
16-402 Suwalki, Polen

Jedesmal wieder denken wir, ah, ein Musterhaus! Oder oh, eine Musterhaus-Siedlung. Aber so viele Musterhäuser kann es einfach nicht geben. Also wohl private Neubauten, ambitioniert, gestaltungsfreudig, aber trotzdem irgendwie katalog – und eingezäunt. Auf jeden Fall will da was gezeigt werden (die imposanten Exemplare haben wir während der Fahrt nicht fotografiert bekommen). Und wenn man mal großzügig ist in der Bewertung von Schönheit, was allen zu eigen ist: bei der Gartengestaltung hapert es. Karge Rasenfläche mit Plastiksandkasten und Baumarktrandbepflanzung, hie und da monströse Zypressenhecken, da geht noch was ... immerhin begegnen uns keine Steinwüsten als Vorgärten. Auffallend auch die häufige Alleinlage (wie wird in Polen eigentlich Baugrund vergeben?), in den idyllischsten Ecken tauchen aus dem Nichts futuristische Villen auf, hypermoderne Landhäuser, architektonisch fragwürdige Megabungalows.

Derart gut auf der Fahrt unterhalten kommen wir in Wigry (Ort) am Wigry (See) an, richten uns ein, checken das Speise- und Boote-Angebot und inspizieren das Kloster. Von der Balustrade schauen wir über den See und auf den Campingplatz. Der Ort fürs Kloster ist (natürlich) perfekt gewählt, beschienen durch die tiefliegende Sonne wirkt es, als würde es von selbst leuchten. Um den Kirchturm jagen Massen von Schwalben, von weitem sehen sie aus wie ein riesiger Bienenschwarm.

Heute Abend gibt es wohl eine Führung, denn alles steht offen und kann besichtigt werden. Ausgiebig wird die Tatsache gewürdigt, dass Papst Johannes Paul der II, der erste polnische Papst, 1999 hier seinen Urlaub verbrachte (was äußerst muntere Marketingideen bewirkte). Auf den vielen ausgestellten Bildern ist er allerdings schon schwer von Parkinson gezeichnet und wirkt versteinert inmitten all der Feierlichkeiten zu seinen Ehren. Interessanterweise gibt es zum Kloster kaum Informationen auf Englisch, gar keine auf Deutsch, überhaupt ist in diesem Land so gut wie nichts übersetzt (für Touristen). Im Normalfall reimen wir uns die Bedeutung von Hinweisschildern zusammen. Oft hat ein Schild 20 Hinweise, gerne ohne Bilder oder solche, die man in die verschiedensten Richtungen interpretieren kann. Apropos, eigentümlich auch die Geschwindigkeitsbegrenzungen, gerne mal 4 Schilder auf 200 m und wir achten sehr drauf, nachdem wir am ersten Tag in eine Kontrolle gerieten und an Ort und Stelle ein empfindliches Bußgeld abdrücken durften. Das konnte man gleich mit der EC Karte zahlen, wie man fast alles, selbst kleinste Beträge damit zahlen kann, außer die Stellplätze – obwohl die Netzabdeckung ziemlich gut ist. Dafür nehmen sie Euro, zu einem besseren Kurs als am Bankautomat, Zloty in bar brauchen wir so gut wie nicht.

Mist, zu lange inspiziert, jetzt hat das Restaurant schon (18:30!) zu. Na dann wieder kalte Küche, dafür sorgen die frisch angereisten üblich lautsprechenden Nachbarn als Großfamilie beim Zeltaufbau (und der Frage, ob wir denn länger als eine Nacht bleiben wollten) für kleine Hitzewallungen, wir befürchten Schlimmstes, doch der Abend verläuft ruhig, der Sonnenuntergang macht furioses Licht und das Kloster sein allabendliches Nachtgeläut (21:00!).

Das Kloster und der Campingplatz liegen auf einer Halbinsel, direkt am Platz ist ein netter Bootsverleih und wenn man einmal um alles rundum gepaddelt ist, erreicht man über einen nächsten kleineren See die fürs Kajakfahren berühmte Czarna Hancza, ein Nebenfluss der Memel, der bis Belarus fließt. Am Ufer gibt es in regelmäßigen Abständen kleine Stege, um dort anzulegen, oder von Anwohnern (bzw. den dazu verdonnerten Kindern) angebotenen Kaffee, Obst oder Schnittchen zu kaufen, auch größere Anlegestellen zum Biwakieren oder um sich abholen zu lassen. Es ist kitschig idyllisch, Libellen umfliegen uns, Wasserpflanzen glänzen schlängelnd in der Sonne, das Kajak gleitet gemächlich in der Strömung durchs glasklare Wasser, viel weiter als gedacht sind wir unterwegs. Wir treffen auf eine (sehr unterschiedlich motivierte und begabte) Gruppe jugendlicher Paddler unter Anleitung und haben ansonsten den Fluss für uns alleine, was auch den Bootsverleiher erstaunt, denn normalerweise sei es um diese Zeit richtig voll.

Zu allem Überfluss kommen wir nach den 12 km Gepaddel (man wird nach einem kurzen Anruf ruckzuck an der Ausstiegstelle vom Bootsverleih aufgepickt und zurückgebracht) heute auch noch rechtzeitig zum Essen – passend gibts Weißfisch und Hecht, dazu verschiedene Salate, geriebene Rohkost mit Karotten, Rote Beete, Kraut und Gurken (Blattsalate begegnen uns bislang nicht).

Vielleicht war das zuviel des Guten, denn zurück am Bus holt uns die Vorahnung des Vortags ein, hier wird munter gefeiert und getorkelt, na gut, geben wir den Platz direkt am See eben für eine stillere Nacht weiter oben her, wir parken kurzerhand 30 Meter höher, hier ist eh die Luft besser und auch der Blick aufs abendlich bestrahlte Kloster unverstellt.

Der nächste Morgen beginnt beschaulich, der Bilderbuchsommer mit frischen Nächten (16 Grad) und warmen aber nicht zu heißen Tagen (26 Grad), an denen immer ein Lüftchen weht, hat möglicherweise heute ein erstes Finale, also nochmal alles anschaun und nutzen. Wir entdecken die etwas eigentümlichen Gärten des Klosters, eine weitere Klostergaststätte, einen weiteren Bootsverleih (es hat etwa 17 auf der Halbinsel), der mit Johannes Paul wirbt und nachdem es sonst nichts mehr zu erkunden gibt, geht's wieder aufs Wasser, diesmal aufs SUP.

Unser letzter Tag in Wigry und Zeit für's Sternchen*: Heißt es in der Beschreibung des Platzes „ruhig und friedlich“, schließt es Schreien, Bellen, Feiern bis in die Puppen, Ghettoblaster, Rasenmäher und Freischneider, praktisch alles außer Artillerie und Nowegian Death Metal mit ein (kommt vielleicht noch). Dafür sind auf den Gewässern fast ausschließlich Boote mit Elektromotor unterwegs, ein Segen, wenn man es denn (nicht) hören würde. Zugegeben wir sind lachhaft empfindlich. Zum Sonnenuntergang sitzen alle leicht bekleidet, Sundowner in der Hand, draußen, wir auch, allerdings bis zum Hals eingewickelt, mit Moskitonetzen überm Kopf und nichts in der Hand, weil wir Mücken verscheuchen.

Jetzt, ein paar Bremsen erschlagend (null Fluchtimpuls, daher auch der Name Blindfliege), frage ich mich, was mich denn so fuchst? Ich vermute, nicht die Tatsache selbst, sondern der „Ruhe und Frieden“-Etikettenschwindel. Auf einem Festival z.B. schlafe ich seelenruhig ein, auch wenn die Anlage einem die Haare aus dem Gesicht bläst. Dies schreibend verraucht der ganze Unmut, denn: Nachdem wir gestern noch umparkten, stehen wir jetzt im Schatten von Sauerkirschbäumen, die Glocken vom nahen Kloster schlagen gemütlich, um 7 Uhr ertönt die morgendliche Bläserfanfare. Wir stehen etwas erhöht, können den Platz überblicken und zusehen, wie er sich langsam füllt, das hat einen beruhigenden Effekt. Da geht’s mir wie der Katze, die ja auch lieber von oben dem Treiben zuschaut, man möchte direkt anfangen zu schnurren. All things nice and beautiful, für den Moment jedenfalls.

Update 16 Uhr: Am Ufer gegenüber im Spaßbad macht gerade eine Band Soundcheck, Polish Top 40 würde ich mal vermuten.

Update 21 Uhr: Falsch gedacht, ambitionierter Jazz mit Klavier und Cello weht über's Wasser herüber, toll.

Aus einem Tag werden drei und – ungewöhnlich – ist es diesmal Elle, die aufbrechen möchte. Eine dreiviertel Stunde Richtung Norden beim Suwalki Landscape Park soll die Gegend zum Wandern perfekt sein, also dann, nichts wie hin.

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